Das Ticket
„Sie haben da ein Ticket!“
Wieso sagt der immer noch „Sie“ zu mir? Da stehen wir seit Stunden gemeinsam in Dreck und Staub und er sagt „Sie“ zu mir.
„Du hast da ein Ticket“, sage ich, ohne die volle Bedeutung seiner Bemerkung erfaßt zu haben.
Ticket? Was für ein Ticket?
Er deutet meinen fragenden Blick völlig richtig und reicht mir den Zettel, der bis eben unter dem Scheibenwischer meines Autos steckte.
„Da mußt Du hier aufpassen. Die sind hier wir die Bekloppten.“
„Wo muß ich aufpassen? Worauf muß ich aufpassen?“
„Na, auf die Politessen. Die sind hier echt scharf.“
Jetzt mal langsam, denke ich.
Die können ja scharf sein, wie sie wollen. Nur habe ich doch gar nichts falsch gemacht.
Er scheint Gedanken lesen zu können.
„Da Hinten steht eine Parkuhr, da mußt Du Dir einen Parkschein ziehen.“
Wieso muß ich mir als Anwohner dieser Straße einen Parkschein ziehen? Mein Auto ist an diesem kalten Januartag das einzige auf den nächsten 500 Metern!
Geradezu einsam steht es hier am Straßenrand und ein Bezug zu der Baustelle schräg gegenüber läßt sich nicht übersehen.
Die reichlich vorhandenen Laufspuren unserer lehmverschmierten Schuhe sprechen eine klare Sprache:
Dieses Auto gehört zur Baustelle Kochstraße 41.
Das sieht man.
Das kann man gar nicht nicht sehen.
„Weißt Du“, sage ich und versuche ruhig zu bleiben, „ich fahre jetzt seit über 20 Jahren Auto im Westen.
Im Osten gab es, jedenfalls in meiner Erinnerung, mehr Parkplätze als Autos. Und an Politessen kann ich mich da nicht erinnern, was nicht heißen muß, daß es keine gegeben haben kann.
Jedenfalls habe ich in den zwanzig Jahren, die ich jetzt im Westen wohne, noch nie einen Strafzettel wegen falschen Parkens bekommen!“
Ich rede mich in Rage.
Bei mir zu Hause kann ich parken, wo ich will, wann ich will und solange ich will.
Und hier stelle ich meine Auto an die Straße, um ein Haus zu reparieren, dessen erbärmlicher Anblick doch jeden Vorbeilaufenden – auch eine Politesse! – stören muß.
Und was bekomme ich zum Dank?
Einen Strafzettel!
Der in den letzten Stunden angehäufte Frust hat endlich einen Kanal gefunden. Es tut gut, wütend zu sein.
Und dieser blöde Zettel in meiner Hand würde später nicht mein Nachbar, die Politesse, die ihn mir ausgestellt hat, ist weit und breit nicht zu sehen.
Eine gute Gelegenheit, herrlich unsachlich zu werden.
Was ist das nur für eine Scheißstadt.
Da kümmert sich Jahrzehnte niemand um dieses Haus, die halbe Stadt verfällt, wenn man genau hinguckt.
Und wenn mal jemand kommt, und daran etwas ändern will, dann schreibt man ihm Strafzettel aus.
Wo soll ich denn mein Auto parken? Die Baustelle ist hier und nicht 500 m weit entfernt!
Ich schimpfe. Ich fluche.
Diese blöde Kuh.
Politesse. Nachbarin. Politesse. Alte Frau. Politesse. Nachbar. Politesse. Nachbarin von Gegenüber. Politesse. Zimmermann. Politesse. Mann vom Ordnungsamt. Politesse. Polizist. Politesse. Nachbar im Torweg.
Mit diesem Zettel muß ich nicht freundlich umgehen, weil ich den Rest meines Lebens mit ihm leben muß.
Mit diesem Zettel kann ich Klartext reden.
„Scheiße! Was ist das nur für eine beschissene Stadt!“
Er sieht mich etwas verlegen an, er weiß nicht, was er sagen soll.
Es ist auch sein erster Arbeitstag auf dieser Baustelle.
Er ist 57 Jahre alt, er ist Wernigeröder.
Er ist Reinhard.