Der Korkenzieher

Jetzt stehe ich schon seit Stunden auf einer Leiter und breche Füllungen aus dem Fachwerk.
Mir geht es nicht gut.
Denn ich habe bei jedem Schlag mit dem Hammer, bei jeder neuen Staubwolke das Gefühl, etwas Böses zu tun.
Nachdem ich mich jahrelang mit Fachwerkbau auseinander gesetzt habe, halte ich Fachwerkhäuser nicht für einen Baustil.
Ich weiß, daß hier ein Konstruktionsprinzip zur Anwendung kommt.
Auch weiß ich, daß erst die optimale Abstimmung zwischen dem tragenden Holzfachwerk und den eingebauten Füllungen eine Fachwerkwand ausmachen.
Ich weiß, daß ohne den Lehm, der in den Füllungen verbaut wurde, viele dieser Häuser gar nicht mehr stehen würden.
Auch weiß ich, daß der Begriff „Wand“ entstand, weil fleißige Vorfahren aus Weidenruten eine Grundlage für den Lehmbewurf schufen, die Weiden also „wanden“.
Und doch hilft mir all dieses Wissen jetzt nichts.
Denn was ich hier vorfinde, ist ein geschundenes Haus.
Ein trauriger Schatten seiner selbst.
Kaum etwas weist auf die historische Substanz hin.
Wände fehlen fast völlig, einen Hausflur gibt es nicht mehr.
Die Decken sind teilweise bereits herausgebrochen, die einzige Treppe im Haus ist eine Wendeltreppe aus der Gründerzeit.
Sie besteht aus Gußeisen und schraubt sich durch das Haus, wie ein Korkenzieher durch das Herz eines Kindes.
Diese Treppe gehört hier nicht rein. Denke ich jede Minute, die ich im Haus bin.
„Die Treppe ist aber wirklich toll!“ Sagt jeder, der zur Tür reinschaut.
Die Treppe muß weg. Sofort.
„Wo ist denn die schöne Treppe?“ heißt es ab jetzt. Jeder scheint dieses Monstrum gekannt zu haben.
Es ist mir egal.
Kaum ist die Treppe ausgebaut, erkenne ich, was das Haus braucht: seine alte Struktur zurück.
Einen Hausflur. Eine Küche. Eine Wohnstube.
Und die blöden Glasscheiben, die an einigen Stellen die Fachwerkfüllungen ersetzen, müssen auch raus.
Wer hat nur mit diesem Unfug angefangen?
Wände werden zu „Raumteilern“, der ursprüngliche Sinn einer Fachwerkwand aus mehreren, auf einander abgestimmten Komponenten geht verloren.
Was soll das Glas denn für das Holz tun?
Der Lehm hatte über Jahrhunderte die Feuchtigkeit vom Holz fern gehalten.
Und das Glas? Würde es auch die Feuchtigkeit in der Wand oder gar im Raum regulieren helfen?
Wohl kaum.
Und so kommt, was kommen muß:
Ich reiße ab, was ich gerade gekauft und bezahlt habe.
Dabei geht es mir gar nicht gut. Nicht, weil mir die Arbeit zu viel wird.
Nicht, weil ich für falsch halte, was ich tue.
Auch weiß ich schon vor dem Kauf, daß ich genau das tun würde: Bezahlen und Abreißen.
Es sind die Spuren sinnloser Zerstörung, die mir überall im Haus begegnen, die mir zeigen: hier sollte aus einem kleinen, mittelalterlichen Handwerkerhaus ein modernes Wohnhaus gemacht werden.
Daß man dem Haus damit seine Würde nahm – seit der Halberstädter Bahnhof Mitte der 70er Jahre mit Büchsenblech verkleidet wurde, weiß ich, daß man auch Häusern die Würde nehmen kann – war allen meinen Vorkämpfern scheinbar egal.
Das würde sich ändern müssen.
Dafür stehe ich auf der Leiter.
Im Dreck. Im Staub.

„So geht das aber nicht!“

Der Nachbar ist da. Der Zimmermann. Na, dann will ich mal runter, von meiner Leiter…

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