Ich muß ja kommen

Er ist freundlich, kommt mir mit ausgestreckter Hand entgegen.
Man, ist der dick, denke ich.
Und er scheint mich zu kennen, jedenfalls ist seine Körpersprache die eines Freundes, der mich nach Jahren wiedersieht.
Ich mache mir in Zehntelsekunden klar, wie ich selbst mich in den Jahren verändert habe und überlege, woher ich den Mann kennen könnte.
Ein Schulkamerad? Ein Nachbarskind?
Na, er wird es mir schon sagen. Und das tut er dann auch.
Seinen Namen verstehe ich nicht bzw. scheint der mir sofort unwichtig, als er anfügt:
„Ich komme vom Ordnungsamt.“
Ich halte seine Hand immer noch in meiner, dort, wo vor nicht einmal zwei Minuten die Hand meines Lieblingspolizisten ruhte.
„Ach, dann kennen wir uns also gar nicht? Dann muß ich ja auch nicht nachdenken, wo wir uns schon mal gesehen haben.
Was kann ich für Sie tun?“
Er ist wirklich nett. Ohne Scheiß.
Ihm scheint es peinlich, hier sein zu müssen. Das muß es aber nicht, denke ich. Den anderen war es doch auch nicht peinlich, mich anzupöbeln.
Und so biete ich ihm an, mich zu verhaften.
„Ich werde mich auch nicht wehren.“
Er kann mir ja dann auch irgendwann mal sagen, weshalb ich verhaftet werde, aber das hat keine Eile.
Er lacht ein ehrliches Lachen, was gut tut an diesem Tag.
Das Eis ist gebrochen, meine Hand läßt er trotzdem nicht los.
„Ja wissen Sie“, erklärt er mir, „ich muß ja kommen, wenn man uns anruft!“
Verstehe ich. Was ich nicht verstehe, weshalb er, einmal gekommen, Hände festhalten muß.
Nachdem ich nun sicher weiß, daß dies hier kein alter Schulfreund von mir ist, entziehe ich ihm einfach meine.
„Da haben Sie sich keine einfache Ecke ausgesucht!“
„Wie meinen Sie das?“ Allerdings habe ich eine Ahnung, wie er das meint.
Meine Ahnung soll sich bestätigen.
„Na ja, hier im oberen Teil der Kochstraße (Anmerkung: die Kochstraße ist vielleicht 400m lang!) wohnen Leute, die uns öfter mal anrufen.“
„Verstehe. Und warum?“
„Das wissen die ja manchmal selber nicht. Die waren auch nicht immer so, aber seit der Wende sind die Menschen hier ganz anders geworden.“
„Da sind Sie ja einer, der durch die Wende mehr Arbeit hat, als davor“, scherze ich.
Er lacht wieder sein ehrliches Lachen. Ein krisensicherer Job macht scheinbar glücklich.
„Ja, das stimmt. Wegen was für Blödsinn die Leute heute bei uns anrufen! Aber, was sollen wir machen? Wenn wir angerufen werden, müssen wir ja kommen!“
Das sagte er schon mal und ich versuche, die lockere Atmosphäre zwischen uns auszunutzen.
„Wer hat Sie denn angerufen und warum?“
„Nee, das kann ich Ihnen nicht sagen.“
Spricht und schaut dabei reflexartig zum kleinsten Haus.
Daher weht der Wind.
Ich bluffe.
„Aber, das hatte ich doch geklärt mit dem Nachbarn vom kleinsten Haus. Wir werden die Wand natürlich nicht abreißen!“
Zum zweiten mal an diesem Tag bringt mich diese dreiste Lüge in einen Vorteil.
„Wand abreißen? Nein, er meint nur, daß Sie zuviel Krach und Dreck machen und außerdem bestimmt keine Genehmigung dafür haben!“
Hatte ich also recht.
Im gleichen Augenblick, in dem ich den Verursacher meiner neuerlichen Schwierigkeiten entlarve, begreift mein Gegenüber, daß er mir dabei geholfen hat.
„Na, ich war jedenfalls hier. Wenn sie mal was brauchen oder eine Frage haben, kommen Sie ruhig vorbei.“
Und während seine Stimme einen verschwörerischen Unterton annimmt, rät er mir, hier in der Ecke ein bißchen aufzupassen.
Was ein toller Rat ist, am ersten Tag meiner Arbeiten am Haus Nr.41 in der Kochstraße.

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