Keine Kühe zu sehen
Ich starre durch das Loch in der Außenwand meines Hauses und versuche zu verstehen, was ich dort sehe.
Gipskarton von Hinten.
Soviel ist klar.
Was ganz und gar nicht klar ist: wieso gucke ich auf Gipskarton von Hinten?
Eigentlich müßte ich doch jetzt die Außenwand des Nachbarhauses sehen?
Die Wand zum Nachbarhaus zur Linken ist nur noch im Erdgschoß existent, in Teilen auch noch im Dachgeschoß.
Um den statischen Zusammenhängen auf den Grund zu gehen, beschließe ich, ein Feld dieser Wand im Erdgeschoß heraus zu nehmen.
Schließlich gibt es zu diesen Häusern keine Zeichnungen.
Natürlich versucht der gewissenhafte Handwerker, durch Messen die Struktur einer Wand zu erkennen.
Wenn die Fenster zweier Nachbarhäuser Außen drei Meter voneinander entfernt sind, das Maß von den Fenstern bis zu den Zimmerecken in den Häusern jeweils nur einen Meter beträgt, dann muß die Wand zwischen den Häusern einen Meter dick sein.
Genau das hatten auch wir so gemacht, waren aber zu keinem befriedigenden Ergebnis gekommen.
Das errechnete Maß paßte nicht in unsere Vorstellungen von der Struktur unseres und des Nachbarhauses.
Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Wand.
In so einer Situation legt der interessierte Handwerker das Maßband aus der Hand und greift zum Hammer. (Ein Endoskop täte es auch, aber ich stehe hier in der Kochstraße 41 und das Feld, das ich herausnehme, besteht aus industriell gefertigtem Klinker, ist mit Sicherheit nicht viel älter als ich.)
Kaum ist das Loch groß genug, ist meine Frage nach dem Aufbau der Wand nicht nur nicht beantwortet, sondern eine neue Frage tut sich auf:
Weshalb sehe ich hier auf Gipskarton von Hinten?
Langsam, ganz langsam dämmerte mir die Antwort auf alle meine Fragen.
Um diese auch dem Leser näher zu bringen, hole ich ein wenig aus.
Stellen sie sich vor, Ihr Haus steht auf der grünen Wiese, ringsherum laufen Kühe.
Wenn Sie jetzt ein Loch in die Außenwand Ihres Hauses machen, sehen Sie was?
Richtig.
Das Haus in der Kochstraße steht nicht auf der grünen Wiese, sondern in Reih und Glied mit anderen Häusern.
Weshalb ich natürlich nicht damit rechnen kann, nach dem Durchbrechen der Außenwand meines Hauses Kühe zu sehen.
Aber, und da werden Sie mir zustimmen: Mit einem Blick auf die Außenwand des Nachbarhauses durfte ich an dieser Stelle schon rechnen, oder?
Eigentlich schon, denke ich.
Was ich sehe, ist jedoch alles andere als eine Hauswand. Denn, soviel ist klar: Vor 350 Jahren hatte man keinen Gipskarton und wenn man ihn gehabt hätte, dann hätte man ihn nicht verkehrt herum angebaut.
Was war hier passiert?
Dazu muß ich Sie noch einmal in Ihr Haus auf der grünen Wiese bitten.
Sie brechen also ein Loch in die Außenwand Ihres Hauses und wollen Kühe sehen.
Das Loch ist da, Kühe sehen Sie nicht.
Denn Ihr Nachbar hat Außen auf Ihr Haus ein Gestell aus Dachlatten genagelt, darauf Gipskarton geschraubt und tapeziert.
Warum?
Nun, weil es ihm so gefiel.
Sie lachen?
Stimmt, auf der grünen Wiese würde das ja auch keiner machen, könnte das auch keiner machen. Würden Sie ja auch sofort merken.
Hier in der Kochstraße aber ist das etwas anderes.
Hier hat mein Nachbar im Rahmen von Ausbaumaßnahmen seines Hauses Mitte der 90er Jahre die Außenwand seines Hauses entfernt. Die dahinter befindliche Außenwand meines Hauses wird so zur Zimmerwand seines Erdgeschoßzimmers.
Merkt ja keiner.
Und weil er seine Zimmerwände hübsch gerade haben will, nagelte er – richtig – Gipskarton an das Haus, das jetzt mein Haus ist.
Der Vorteil für ihn: Sein Haus wird um seine jetzt fehlende Außenwand größer. (Bitte bedenken Sie: die Grundstücke! sind hier kaum 50 qm groß!)
Und noch während ich durch das Loch starre, auf den Gipskarton von Hinten, dämmert es mir: Hier wird es Probleme geben!
Schließlich werde ich die Außenwand meines Hauses sanieren wollen bzw. müssen, und wie soll ich das tun, solange der Nachbar seine Tapete daran hängen hat?
Daß das Kleinste Haus zur Rechten keine eigenen Giebelwände hat, kann man in jedem Reiseführer lesen.
Alles andere als überraschend also, daß ich den Giebel zum Kleinsten Haus nicht anrühren kann.
Jetzt aber habe ich gerade entdeckt, daß auch das Haus zu meiner Linken in Teilen keinen eigenen Giebel besitzt.
Und das steht in keinem Reiseführer.
Hier besteht Gesprächsbedarf.
Mich überkommt das spontane Gefühl, daß dies keine schönen Gespräche sein werden.
Eigentlich würde ich gern darauf verzichten, denke ich, während ich überlege, wie ich das Problem löse.
Eigentlich müßte hier eine Wand sein.
Eigentlich würde ich gern auf das Gespäch verzichten. Eigentlich ist ein blödes Wort, denn es ändert nichts.
Es ist Mittag an diesem ersten Tag im Haus Kochstraße 41.