Peterchens Mondfahrt
D ie freundliche Hannoveranerin war der Treibstoff für die letzten 3 Stunden. Es gibt sie, die Menschen, die mich nicht hassen.
So alt wie die Frau war, könnte es aber bald vorbei sein, mit meinen Fans, denke ich so.
Denn der da ist definitiv nicht mein Fan.
Der ist sauer.
Aber auf eine komische Art.
Er flucht nicht, er schreit nicht, er nennt mich auch nicht bei Tiernamen.
Er steht einfach nur da und schweigt brüllend laut.
So stand der erste Offizier auf der Titanic am Kamin des Salons.
Das Schiff geht unter, er steht da und schweigt.
Nur, das ist schon mal klar, auch wenn das Schiff, auf dem ich stehe, jetzt untergehen sollte: der hier würde nicht mehr lange schweigen.
Der schweigt nämlich nicht, weil ihm nichts mehr einfällt, sondern weil er nicht weiß, wo er anfangen soll!
Jetzt, während er seine Kartentasche (vielleicht kommt auch daher meine Assoziation zum russischen Zweite – Weltkriegs – Offizier?) zum wiederholten Male von einer Schulter auf die andere hebt, scheint schwer zu sein, fängt er an zu sprechen.
Wirklich überraschen kann er mich mit seinen ersten Worten nach der Begrüßungsfloskel nicht.
„Was ist denn hier los?“
„Was meinen Sie?
Meinen Sie den Staub? Oder die Arbeit?“
„Nein, ich meine, was ist denn hier los?“
So kommen wir nicht weiter.
Die Situation ist gespenstig.
Weil wir ohne elektrische Beleuchtung nicht einmal den Ausgang finden würden, wirft ein alter, verbeulter Bauscheinwerfer seine 100 Watt dorthin, wo vor Jahren einmal die Decke war.
Er scheint sich auf diesem Lichstrahl vergeistigt entlang zu hangeln und scheinbar würde er sich zu gerne den Kopf an der Decke stoßen.
Geht aber nicht.
Und so muß er weiter klettern auf diesem schmutzig gelben Lichtstrahl.
Bis dorthin, wo ihm die Decke des zweiten Geschosses die erhoffte Kopfnuß verpassen könnte.
Kann sie aber nicht, denn auch sie ist nur in der Erinnerung sehr alter Leute existent.
Und so findet seine abenteuerliche Reise auf dem Lichtschwert meines Bauscheinwerfers sein vorläufiges Ende an den Dachziegeln, die etwa 10 Meter über uns den Blick auf den Mond versperren.
Und wie er so dasteht und fassungslos den Kopf im Nacken hat, da sehe ich plötzlich:
Dieser Mann leidet wie ein getretener Hund!
So stehen Männer an den Gräbern ihrer Kinder.
Ich begrüße einmal mehr die strengen Waffengesetze in Deutschland und hoffe, daß er in seiner schweren Umhängetasche nicht einen Verstoß dagegen mit sich herum trägt.
Es wird Zeit, ihm zu erklären, was er sieht.
Wobei, eigentlich wäre es an der Zeit, daß er mir sein Verhalten erklärt.
Für jemanden, den das Innere meines Hauses nach eigenem Bekunden nicht zu interessieren hat, sieht er unangemessen interessiert aus!
„Aber“, fange ich an. „Sie selber haben mir doch gesagt, daß dies kein Einzeldenkmal ist und ich deshalb nur die Hausfront nach denkmalsgerechten Vorgaben zu sanieren habe?“
Er fühlt sich nicht angesprochen.
Jetzt fange ich an, mich über mich selbst zu ärgern.
Weshalb tue ich so, als würde es mir gefallen, hier soviel abreißen zu müssen?
Weshalb erwecke ich den Eindruck, allein seine Informationen aus dem ersten Sondierungsgespräch seien verantwortlich dafür, was hier passiert?
Das ist doch alles nicht wahr, denke ich, während er sich noch immer sammelt, unverkennbar zum ultimativen Vernichtungsschlag.
„Sie dürfen hier nicht weiter arbeiten.“
Das hat gesessen.
„Weshalb nicht?“, frage ich, nun nicht nur des Staubes wegen nach Luft ringend.
„Das ist hier ist ein Denkmal und sie machen hier alles kaputt!“
Ich sehe ihm deutlich an, wie er das Bild der brennenden Semperoper vor seinem inneren Auge hat.
In seiner Vorstellung müßte sich über ihm eine intakte Windelwickeldecke befinden, die Balken fein säuberlich mit Stroh benagelt und mit Kalk verputzt.
Auch in meiner Vorstellung würde mir das so gefallen.
Nur hatte ich das selber ja so nicht vorgefunden!
Und das versuche ich ihm zu erklären.
Ich will ihm gern helfen, mit dem frisch empfundenen Verlust fertig zu werden, will ihm deutlich machen, daß ich empfinde wie er.
Er hört mir nicht zu.
Ich bin der Feind. Es ist seine Aufgabe, mich zu stoppen, seine Aufgabe, meinem schrecklichen Wirken ein zumindest temporäres Ende zu bereiten.
Und so versucht er auch gar nicht erst, mir zu erklären, woher sein für mich überraschendes Interesse am Innenleben meines Hauses kommt.
Auch nimmt er meine Erläuterungen nicht mehr auf.
Er ist jetzt die letzte Bastion zwischen mir und dem wunderbaren Haus, das in seiner Phantasie noch heute Morgen hier gestanden hat.
Ich verstehe die Welt nicht mehr.
Meine Batterien sind leer.
Weder sein absonderliches Verhalten, noch die Widersprüchlichkeiten in seinen Aussagen treffen bei mir auf weiteren Widerstand.
Und so wende ich mich, inzwischen tatsächlich am Verzweifeln, an die Vertreterin der Stadt und bitte um Bestätigung, daß ich ausgerechnet von dem Mann zu meinem Tun ermuntert wurde, der dies jetzt so nachdrücklich abstreitet.
Sie schweigt.
Sie weiß es besser.
Das sehe ich ihr an.
Mein Tag ist jetzt 16 Stunden alt.
Die grenzenlose Enttäuschung, die ich jetzt und hier empfinde, gibt mir den Rest.
Ich will nur noch weg.
Reinhard ist bei mir geblieben.
Schweigend und loyal.
Er hätte schon seit mindestens drei Stunden Feierabend.
Ach Reinhard.