Woher nimmt er die Kraft

Ich bleibe drei, vier Tage. Länger nicht. Ich muß den Reinhard probereiten, sehen, ob er der Richtige ist.“
Probereiten habe ich gesagt, weil ich das cool finde.
Meine Frau kann darüber nicht lachen.
Sie weiß, daß ich sie allein lassen werde, sehr oft in den nächsten Monaten. Nach 28 Jahren Ehe merke ich, wenn sie weint, auch dann, wenn keine Tränen fließen.
Jetzt ist so ein Moment.
Es ist 3 Uhr morgens an diesem ersten Tag der Arbeiten am Haus Nr. 41 in der Kochstraße.
Ich werde jetzt gleich losfahren und meine Frau allein lassen.
Allein mit ihrer Arbeit, allein mit ihren Sorgen, allein mit ihrer Behinderung.
Meine Frau ist die wahrscheinlich einzige querschnittgelähmte praktizierende Zahnärztin in Deutschland.
Ich halte das an jedem Tag seit ihrem Unfall für etwas ganz Besonderes.
Ich kenne noch ein paar, die das auch so sehen.
Es sind viel zu wenige, denke ich oft.
Wirkliche Unterstützung bekam sie nur kurz nach dem Unfall. Finanzielle Hilfen zum Erhalt ihrer Arbeitskraft waren das.
Die haben natürlich auch wirklich geholfen.
Nachdem das Geld ausgezahlt war, war es mit der Unterstützung vorbei.
Seitdem ist sie eine Zahnärztin wie jede andere auch.
Oder auch nicht.
Denn sie arbeitet in eigener Praxis mit bis zu 7 Angestellten, betreut mehr als 9000 Patienten, zahlt mehr als 500 Euro im Monat Beiträge zu ihrer Krankenversicherung, über 1000 Euro monatlichen Pflichtbeitrag in die Rentenkasse der Zahnärztekammer und muß sich jeden Tag mit Krankenkassen rumstreiten, die ihr permanent unterstellen, ihre Patienten falsch zu behandeln und geldgeil zu sein.
Sie macht das aus dem Rollstuhl heraus, denn unterhalb des Bauchnabels spürt sie nichts mehr, seit ihrem Motorradunfall im Harz vor jetzt schon mehr als 10 Jahren.
„Ich rufe Dich an, wenn ich angekommen bin. Schlaf jetzt noch ein bißchen. Bis später.“
Angerufen hat sie mich.
Um 5 Uhr, da war ich auf der Autobahn, irgendwo auf den 365 km zwischen unserem Zuhause und unserer Heimat.
Und jetzt muß ich an sie denken.
Weil ich Reinhard beim Arbeiten zusehe.
Was habe ich meiner Frau heute Morgen erzählt? Ich muß Reinhard zureiten?
Ich muß lachen.
Seit jetzt schon fast 11 Stunden arbeiten wir beide Seite an Seite, können uns vor Staub manchmal nur noch hören, statt sehen.
Und der Mann fragt nicht einmal nach einer Pause.
Hätte ich nicht den Döner um die Mittagszeit vorgeschlagen, er würde durchgearbeitet haben.
Wahnsinn, denke ich. Und muß an meine Frau denken.
„Sag mal, rauchst du eigentlich, Reinhard?“
„Ja, schon. Aber nicht auf Arbeit.“
Ich spüre jeden meiner Knochen, als ich mich verblüfft aufrichte, um den Heiligenschein über seinem Kopf zu suchen.
Doch auch das verhindert der fast undurchdringliche Staub.
So langsam kann ich nicht mehr.
Nein, ich bin fertig.
Und der kleine, alte Mann an meiner Seite arbeitet, als wäre er gerade aufgestanden.
„Sag mal, wird Dir das hier nicht langsam ein bißchen zu viel?“, frage ich ihn.
„Du meinst den Staub?“
„Nein, ich meine die Arbeit.“
„Na ja“, sagt er, „so langsam tun mir alle Knochen weh.“
Er ist kein Heiliger!
„Weißt Du was? Dann machen wir für heute Schluß.“
„Ja gleich, ich mache nur noch diese Ecke hier fertig.“
Reinhard reitet mich ein.

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