
Die Treppe
Ein fast 400 Jahre altes Haus zu sanieren, stellt den Bauherrn vor manches Problem. Einige sind vorhersehbar, andere nicht. Die im Haus verbaute Treppe gehörte eindeutig zu den nicht erwarteten Herausforderungen. Doch der Reihe nach.
Als wir das Haus erwarben, hatten sich schon etliche Generationen vor uns daran versucht. Die Wenigsten davon dürften Handwerker gewesen sein. Und so war uns recht schnell klar, dass es erst einmal darum gehen mußte herauszufinden, welche Teile des Hauses aus der Zeit seiner Erbauung oder zumindest aus den ersten Jahrhunderten danach stammten, und welche nicht. Vor allem aber mußte ergründet werden, wie seine ursprüngliche Struktur ausgesehen hatte. Ganz offensichtlich waren in fast 400 Jahren ganze Wände versetzt oder entfernt, Zimmer waren zusammengelegt oder nachträglich abgetrennt worden.
Wie aber hatte das Haus ursprünglich einmal ausgesehen?
Ein anfangs unbedeutend erscheinendes Indiz erwies sich als Antwort auf diese Frage. An der Wand, welche das Haus und das Nachbarhaus „Kleinstes Haus“ gemeinsam haben, fand sich hinter Tapete, Farben und Holzverkleidungen der Abdruck der ursprünglich verbauten Treppe, welche ins Obergeschoß führte. (auf dem Bild am Anfang dieser Seite zu sehen) Hiervon ausgehend und mit Hilfe weiterer Spuren, wozu vor allem Zapfenlöcher in der Holzkonstruktion gehörten, spürte der Zimmermann mehr und mehr Teile der ursprünglichen Konstruktion auf und übertrug seine Erkenntnisse in den Computer. Am Ende ergab alles einen Sinn und das Bild vom Haus, wie es vor mehr als 20 Generationen ausgesehen hatte, war komplett.
Bereits in dieser Phase der Planung machte uns der Zimmermann darauf aufmerksam, dass die ursprünglich verbaute Treppe eine sehr steile gewesen war. Immer wieder benutzte er das Wort „Stiege“, um uns deutlich zu machen, was er damit meinte.
Weil die Spuren an der Wand und in der Holzkonstruktion nicht den geringsten Zweifel daran ließen, dass die Treppe hier und nirgends anders gesessen hatte, sollte sie auch hier wieder ihren Platz einnehmen. Auch heute noch würden wir uns so entscheiden.
Nachdem das Haus weitestgehend saniert war, rückte der Tag näher, an dem eine neue Treppe benötigt werden würde. Wie wir heute wissen, ist der Bau einer guten Treppe alles andere als Glückssache. Aufgabe des Planers ist es, den vorhandenen Platz optimal auszunutzen und das beste Verhältnis von „Auftritt“ und Stufenhöhe zu ermitteln. Wobei der vorhandene Platz nicht nur in unserem Fall meistens vorgegeben ist und nur in einem Neubau ausreichend eingeplant werden kann.
Zweifellos muß in früherer Zeit das Verhältnis der Menschen zu ihren Treppen ein anderes gewesen sein, als es das heute ist. Alte Häuser, selbst solche aus jüngerer Vergangenheit, haben oft sehr steile Treppen. Einige sind so steil, dass es ohne Handlauf gar nicht geht. Nicht wenige geht der heutige Benutzer lieber rückwärts hinunter, um genug Auftritt zu finden.
Das wußten wir auch schon, bevor wir das Haus in der Kochstraße sanierten. Wie steil die Treppe in einem Handwerkerhaus im 17. Jahrhundert war, das überraschte uns dann aber doch.
Den Zimmermann überraschte es nicht. Er hatte bereits in der Planung erkannt, das hier ein nicht geringes Problem auf uns zukam.
Anstatt es uns am Computer zu erklären, baute er kurzerhand mehrere dreistufige „Treppen“, um uns und seine Mitarbeiter darauf „Probe“ laufen zu lassen. War der Auftritt angenehm, fand der Fuß also genug Platz, war die „Steigung“, also die Höhe von Stufe zu Stufe, viel zu groß.
War die Steigung angenehm, also der Abstand von Stufe zu Stufe nicht zu groß, blieb kaum noch genug Trittfläche für den Fuß, besonders beim Abstieg.
Am Ende, alle Beteiligten hatten die Modelle probeweise benutzt, war der beste Kompromiss gefunden. Die Stufen sind schmaler und höher, als man es heute gewohnt ist.
Das Wichtigste jedoch: Die Treppe steht heute an exakt der gleichen Stelle, an der sie auch vor fast 400 Jahren gestanden hat, sie ist genau so lang, genau so steil.
Allerdings vermuten wir, dass sie damals mehr Stufen hatte, aus heutiger Sicht also mehr einer Leiter, als einer Treppe glich.
Aber das bleibt für alle Zeit eine Vermutung…